Frankreich: Wenn du Hunger hast, warte bis um acht

Jedes Land hat ja seine Besonderheiten. Dinge, die anders, ungewohnt und vielleicht gerade deshalb reizvoll sind. Für mich gehört das einfach dazu, denn wenn alles um mich herum so ist wie immer, kommt bei mir irgendwie kein richtiges Urlaubsfeeling auf. Deshalb fängt für mich Urlaub eigentlich erst jenseits der Landesgrenzen an. Da, wo man mich nur noch bedingt versteht und wo das einzig Vertraute bestenfalls noch die gemeinsame Währung ist.

Seit vielen Jahren war das immer wieder Frankreich. Als ich noch im Südwesten Deutschlands lebte, war es ja nur ein Katzensprung über den Rhein und die Urlaubsstimmung setzte bereits nach den ersten Kilometern auf der Autoroute ein. Ich bin meist ganz bewusst durch das Elsass gefahren anstatt über die deutsche A5. Das war einfach entspannter, als auf der deutschen Rennstrecke mit dem Wohnmobil oder Caravan-Gespann als Verkehrshindernis wahrgenommen zu werden. Zwar war die Fahrt in die Provence, in die Bretagne oder ins Perigord nicht gerade billig und die ständigen Stopps an den Gares de péage nervten. Aber dafür gab es außer auf der Périphérique nur selten Staus und man wurde auch nicht immer wieder durch irgendwelche Dauerbaustellen ausgebremst. Außerdem ist die Autoroute eindeutig in einem besseren Zustand als unsere Autobahn, was zusätzlich zu einem erhöhten Fahrgenuss beiträgt.

Mittlerweile kommt man in Frankreich auch ohne gute Sprachkenntnisse recht weit. Das war noch vor zwanzig Jahren durchaus anders. Aber etwas Englisch sollte man alternativ schon können. Und auch wenn das eigene Französisch auf spärlichem Schulniveau steckengeblieben ist: die Franzosen honorieren es, wenn man zumindest versucht, in ihrer Sprache mit ihnen zu kommunizieren. Und sie erwarten es, dass man nicht einfach lospoltert, sondern erst einmal freundlich „bonjour“ sagt, wenn man von jemand etwas will.

Mein Französisch ist ja bestenfalls restauranttauglich und selbst so manche Speisekarte erschließt sich mir erst, wenn ich mein Smartphone hervorhole und Google Translate konsultiere. Dennoch genieße ich es, bei unseren westlichen Nachbarn essen zu gehen. Aber es hat eine Weile gedauert, bevor ich mir die lokalen Gepflogenheiten zu eigen gemacht und gelernt hatte, mich einfach so zu verhalten, wie es hier eben jeder tut.

Dazu gehört eine Eigenart, die mir zwar am Anfang eher negativ aufgefallen ist, die aber mittlerweile zu meinen festen Urlaubsgewohnheiten gehört, sobald ich mich unter Franzosen bewege. Auch in Deutschland kann es einem passieren, dass man im Restaurant freundlich darauf hingewiesen wird, dass die Küche noch nicht aufhat, oder schon geschlossen ist. Wer da mehr Flexibilität erwartet, ist meist beim Italiener besser aufgehoben, der auch um 22 Uhr noch freundlich die Karte reicht.

Doch das ist nichts im Vergleich zu Frankreich.

In jedem französischen Städtchen wird man nämlich tagtäglich dasselbe Ritual beobachten. Restaurants schlafen sich aus, bis es elf geworden ist. Dann setzt plötzlich emsiges Treiben ein. Tische werden eingedeckt – in warmen Gegenden gerne auch draußen. Servietten werden mit Besteck beschwert, Wein- und Wassergläser werden einsatzbereit platziert. Eine Tafel wird aufgestellt, um auf die heutige plat du jour aufmerksam zu machen. Alles wird für den magischen Augenblick hergerichtet.

Kein Franzose würde es wagen, diese Betriebsamkeit zu stören und in Erwartung seines Mittagessens schon mal Platz zu nehmen. Diesen Fehler machen nur Deutsche, die es gewohnt sind, überall und jederzeit etwas zu Essen zu bekommen. Ein Franzose erscheint um zwölf – frühestens. Und er weiß, dass er vor eins nicht ungeduldig werden sollte, denn das Restaurant entscheidet, wann die Küche bereit ist und es an der Zeit ist, mit der Speisekarte an den Tisch zu treten. Ein Aperitif kann zwar meist schon vorher bestellt werden. Ein Glas Wasser auch. Auch ein Bier gegen den Durst ist OK. Aber für den Wein entscheidet man sich erst zusammen mit dem Menü. Was ja auch logisch ist, denn selbst oberflächliche Weinkenner wissen, dass nicht jeder Wein zu jeder Speisefolge passt.

Französische Köche stehen nicht einfach in der Küche und arbeiten die eingehenden Bestellungen ab, bis keine mehr kommen. Nein, sie haben eine ganz bestimmte Menüfolge vorbereitet, die es in dieser Form meist nur an diesem Tag gibt. In aller Regel gibt es zwei oder drei Hauptspeisen, die der Gast dann mit unterschiedlichen Vorspeisen kombinieren kann. Drei Gänge sollte so ein Menü schon haben, vier werden meist angeboten. Vor allem aber: der Koch hat für dieses Mittagessen exakt die auf der Karte stehenden Menüs vorbereitet und wird auch nur kochen, was er sich vorgenommen hat.

Anders gesagt: zu einem französischen Mittagessen trifft man sich wie eine große Familie. Alle essen gemeinsam und mehr oder weniger zur selben Zeit. Man macht Pause. Man genießt. Man redet miteinander. Man beschließt das Ganze mit einem Espresso oder einem Digestiv. Man geht wieder an seine Arbeit und das Restaurant ist wieder leer.

Das gleiche Spiel wiederholt sich dann am Abend. Das Restaurant ruht bis gegen sechs, es wird eingedeckt und die Tische sind wieder bereit für neue Gäste. Die trudeln so ab sieben allmählich ein und ziemlich genau um acht ist der Koch bereit, die Bestellungen für den Abend anzunehmen und sich mit seinem Team in die Arbeit zu stürzen. Denn genauso wie am Mittag, gibt es Abendessen nur einmal und dann für alle, die sich eingefunden haben.

In einigen Touristenorten wird diese Praxis zwar mittlerweile etwas lockerer gesehen und auch später eintreffende Gäste können noch darauf hoffen, von der Karte wählen zu dürfen. Auch sind manche Restaurants schon ab sieben geöffnet, um der internationalen Kundschaft Rechnung zu tragen. Aber wer durch Frankreich reist und irgendwann am Nachmittag Hunger verspürt, wird fast überall auf irritierte Reaktionen stoßen. Ernstzunehmende Restaurants sind eben nur zu den Mahlzeiten geöffnet. Dazwischen gibt es bestenfalls einen Kaffee und wenn man viel Glück hat ein Baquette.

C'est la France et rien ne changera ça.

Wer nur an einem Ort Urlaub macht, wird sich irgendwann daran gewöhnen, dass die Franzosen keine Toleranz kennen, wenn es ums Essen geht. Essen tut man nicht einfach irgendwann zwischendurch. Man isst auch nicht einfach, wenn man Hunger hat. Nein, essen ist eine wichtige Tätigkeit. Es ist ein Stück Kultur und ein Genuss, für den man sich Zeit nimmt.

Vor allem: Essen ist nicht einfach ein Gericht, sondern eine Menüfolge. Zumindest da, wo „Restaurant“ an der Hausfassade steht und nicht Brasserie oder Bistro. Selbst in einem einfachen Restaurant legt man nämlich einen gewissen Wert auf die Form. Und die verlangt, dass der Gast erst mal einen kleinen Happen bekommt, um die Wartezeit bis zum eigentlichen Essen zu überbrücken. Und dass er mindestens mit einer Vorspeise beginnt, damit der Magen eingestimmt wird und auf den Höhepunkt vorbereitet ist. Man hat sich zwar daran gewöhnt, dass das Publikum auf die Linie achtet und zunehmend auf das Dessert verzichtet. Aber gern gesehen wird das nicht.

Und weil Essen einen so hohen Stellenwert hat, sind in Frankreich auch Köche eine sehr angesehene Berufsgruppe. Sie gelten nicht einfach als Handwerker, wie das bei uns der Fall ist. Sie werden geradezu als Künstler angesehen und die Bekannteren unter ihnen werden vom Publikum geradezu verehrt. Dazu gehört auch, dass man die Kreation eines Koches als Gesamtkunstwerk ansieht, das man nur so genießen kann, wie er es sich ausgedacht hat. Kein Franzose würde daher auf die Idee kommen, die den sorgfältig zubereiteten Kartoffelstampf durch Nudeln ersetzen zu wollen. Die Reaktion auf eine solche Bitte würde zumindest zu einer freundlich bestimmten Verneinung führen. Sie könnte aber auch einen Rauswurf zur Folge haben.

Der Künstler in der Küche (bei dem es sich eher selten um eine Künstlerin handelt) verdient einfach Respekt, selbst wenn es sich nur um ein kleines Restaurant irgendwo in der Provinz handelt, das in keinem Michelin steht.